Bülent Sangar
ISIMSIZ
2005
EB68
Mappe mit 8 Offsetdrucken nach Fotografien des Künstlers
je 80 x 55 cm
35 Exemplare + 5 AP, alle Blätter signiert und nummeriert
Mappe: 1.200 Euro
Einzelblätter: 200 Euro
Die Zusammenarbeit mit Bülent Şangar begann 1998 mit der von René Block und Fulya Erdemci kuratierten Ausstellung İskorpit. Aktuelle Kunst aus Istanbul am Haus der Kulturen der Welt in Berlin und setzte sich über viele Projekte bis zu dem 2009 erschienenen 9. Band der von René Block herausgegebenen, zwölf Bände umfassenden Monografie-Reihe Türkiye’de Güncel Sanat des Verlages YKY Istanbul fort. Die Grafikmappe ISIMSIZ erschien bereits vier Jahre zuvor. Die von Şangar häufig verwendete Bezeichnung bedeutet übersetzt soviel wie „Ohne Titel“ und verweist auf die bewusst offen gehaltenen Narrationen seiner fotografischen Inszenierungen. Die Mappe enthält acht Offsetdrucke nach Fotografien des Künstlers aus unterschiedlichen Werkserien der späten 1990er bis frühen 2000er Jahre, in denen Şangar seine Motive, deren Ursprung oft Zeitungsfotos sind, mit Personen aus dem engsten Freundeskreis in zahllosen Wiederholungen nachstellt: Momente von beunruhigender Ambiguität deuten Spuren von Verbrechen, Unfällen, staatlicher, häuslicher oder sexueller Gewalt an. Der Terror, der das öffentliche Leben in der Türkei Mitte der 1990er Jahre beherrschte, überträgt sich in Şangars Arbeiten zunehmend in den familiären Raum, der gleichermaßen von Solidarität und Gemeinschaft wie von Beengung und Hierarchien geprägt ist und dessen Sicherheit zunehmend in Frage gestellt wird. Ein zentrales Thema im frühen Werk des Künstlers ist die rituelle Opferung und ihre religiösen, mythologischen und gesellschaftlichen Bedeutungen. Bei dem Blatt aus der Serie Feast of Sacrifice (1997–99) handelt es sich allerdings nicht um eine Inszenierung, sondern um eine eher anthropologisch aus der Ferne dokumentierte Szene eines Opferfests: Auf den Hügeln vor der Kulisse Istanbuler Hochhäuser werden zwischen Autobahnen Tiere geschlachtet und zerlegt. In der Aneignung des urbanen Raums prallen Tradition und Moderne aufeinander. Auf zwei Bildern der Mappe sind junge Menschen in einem Treppenhaus und in einem Flur dargestellt, die sich mit Händen, Armen oder Haaren die Gesichter verbergen. Als wollten sie sich vor einer verurteilenden, ja kriminalisierenden Kamera schützen, die eine Verbindung zwischen der brutalen Polizeigewalt und dem pornographischen Blick der ereignishungrigen, postpolitischen und korrupten Massenmedien herstellt (Suret, 2003/04) – auch dies ein widerkehrendes Motiv. Weitere Blätter zeigen Kinder und Erwachsene, die sich im Innen- und Außenraum in fetaler Pose auf dem Boden zusammenkauern, wie um sich vor einer Naturkatastrophe zu schützen (aus den Serien Meanwhile, 2003/04, und Birds-Eye View, 2002/04), andere deuten in semi-dokumentarischen Szenen die Überreste oder Vorboten von Ereignissen an, die jedoch unausgesprochen bleiben: umgefallene Plastikstühle um einen mit Blut oder Ketchup beschmierten Tisch, Steine auf Bahngleisen (beide aus der Serie The Dark Past Series, 2002–04). In unheimlichen, niemals eindeutigen Bildern evoziert Bülent Şangar die latente Gewalt, die das soziale Gefüge des türkischen Alltags durchdringt.
Text: Eva Scharrer







