Bülent Sangar
ISIMSIZ

2005

EB68

Mappe mit 8 Offsetdrucken nach Fotografien des Künstlers
je 80 x 55 cm

35 Exemplare + 5 AP, alle Blätter signiert und nummeriert

Mappe: 1.200 Euro
Einzelblätter: 200 Euro

Offsetdruck von Bülent Sangar. Zwei junge Frauen gehen eine Treppe herunter, eine verdeckt ihr Gesicht mit ihrem Haar, eine mit ihrem Arm
Offsetdruck von Bülent Sangar. Nachtaufnahme mit Blitz. Ein Tisch auf einer Wiese, 4 Plastikstühle, zwei davon umgeworfen. Die Tischdecke und ein Stuhl sind mit roter Sauce verschmiert. Sieht wie der Ort eines Verbrechens aus.
Offsetdruck von Bülent Sangar. Ein Mann liegt bewusstlos oder tot auf der Straße, neben ihr ein geöffneter Koffer, dessen Inhalt auf der Straße verstreut liegt. Am rechten Rand ein Auto
Offsetdruck von Bülent Sangar. Aufnahme aus Vogelperspektive: Blick auf einen Baum, durch die Blätter ist ein Auto zu sehen und eine Person, die zusammengerollt in Schutzhaltung auf dem Boden liegt.
Offsetdruck von Bülent Sangar. Zwei Mädchen in Schuluniformen liegen zusammengerollt in Schutzhaltung auf dem Boden einer Küche.
Offsetdruck von Bülent Sangar. Eine Gruppe junger Menschen läuft um eine Ecke, sie halten sich ihre Hände und Arme vor die Gesichter
Offsetdruck von Bülent Sangar. Auf einer abschüssigen Wiese sind mehrere Personengruppen, eine Gruppe bearbeitet ein großes Opfertier. Im Hintergrund sieht man Wohnblöcke
Offsetdruck von Bülent Sangar. Bahngleise und Kieselsteine, zwei Steine liegen auf einer der Schienen

    Die Zusammenarbeit mit Bülent Şangar begann 1998 mit der von René Block und Fulya Erdemci kuratierten Ausstellung İskorpit. Aktuelle Kunst aus Istanbul am Haus der Kulturen der Welt in Berlin und setzte sich über viele Projekte bis zu dem 2009 erschienenen 9. Band der von René Block herausgegebenen, zwölf Bände umfassenden Monografie-Reihe Türkiye’de Güncel Sanat des Verlages YKY Istanbul fort. Die Grafikmappe ISIMSIZ erschien bereits vier Jahre zuvor. Die von Şangar häufig verwendete Bezeichnung bedeutet übersetzt soviel wie „Ohne Titel“ und verweist auf die bewusst offen gehaltenen Narrationen seiner fotografischen Inszenierungen. Die Mappe enthält acht Offsetdrucke nach Fotografien des Künstlers aus unterschiedlichen Werkserien der späten 1990er bis frühen 2000er Jahre, in denen Şangar seine Motive, deren Ursprung oft Zeitungsfotos sind, mit Personen aus dem engsten Freundeskreis in zahllosen Wiederholungen nachstellt: Momente von beunruhigender Ambiguität deuten Spuren von Verbrechen, Unfällen, staatlicher, häuslicher oder sexueller Gewalt an. Der Terror, der das öffentliche Leben in der Türkei Mitte der 1990er Jahre beherrschte, überträgt sich in Şangars Arbeiten zunehmend in den familiären Raum, der gleichermaßen von Solidarität und Gemeinschaft wie von Beengung und Hierarchien geprägt ist und dessen Sicherheit zunehmend in Frage gestellt wird. Ein zentrales Thema im frühen Werk des Künstlers ist die rituelle Opferung und ihre religiösen, mythologischen und gesellschaftlichen Bedeutungen. Bei dem Blatt aus der Serie Feast of Sacrifice (1997–99) handelt es sich allerdings nicht um eine Inszenierung, sondern um eine eher anthropologisch aus der Ferne dokumentierte Szene eines Opferfests: Auf den Hügeln vor der Kulisse Istanbuler Hochhäuser werden zwischen Autobahnen Tiere geschlachtet und zerlegt. In der Aneignung des urbanen Raums prallen Tradition und Moderne aufeinander. Auf zwei Bildern der Mappe sind junge Menschen in einem Treppenhaus und in einem Flur dargestellt, die sich mit Händen, Armen oder Haaren die Gesichter verbergen. Als wollten sie sich vor einer verurteilenden, ja kriminalisierenden Kamera schützen, die eine Verbindung zwischen der brutalen Polizeigewalt und dem pornographischen Blick der ereignishungrigen, postpolitischen und korrupten Massenmedien herstellt (Suret, 2003/04) – auch dies ein widerkehrendes Motiv. Weitere Blätter zeigen Kinder und Erwachsene, die sich im Innen- und Außenraum in fetaler Pose auf dem Boden zusammenkauern, wie um sich vor einer Naturkatastrophe zu schützen (aus den Serien Meanwhile, 2003/04, und Birds-Eye View, 2002/04), andere deuten in semi-dokumentarischen Szenen die Überreste oder Vorboten von Ereignissen an, die jedoch unausgesprochen bleiben: umgefallene Plastikstühle um einen mit Blut oder Ketchup beschmierten Tisch, Steine auf Bahngleisen (beide aus der Serie The Dark Past Series, 2002–04). In unheimlichen, niemals eindeutigen Bildern evoziert Bülent Şangar die latente Gewalt, die das soziale Gefüge des türkischen Alltags durchdringt.
    Text: Eva Scharrer